Die Differenzierungsphase

Im Spannungsfeld der Politik

Der Beginn der Differenzierungsphase zeigte das Papsttum auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Macht. Es war die einzige nennenswerte innerstädtische Macht und war faktisch im Besitz der Stadtherrschaft. So war auch die Kirche die einzige Institution die in dieser Epoche eine Fürsorge- und Versorgungslogistik aufweisen und großzügig ausbauen konnte. Dies war auch auf dem Hintergrund des exponential gestiegenen Pilgerverkehrs dringend erforderlich. Die funktionalen Mittel zu diesem Zweck waren die Einrichtungen von Hospitälern, domus cultae und Diakonien. Letztere repräsentierten Versorgungs- und Fürsorgestationen mit vielfältigen unterschiedlichen Aufgaben, die von Mönchen betrieben (dendiaconitae), aber von Laien geführt werden konnten und direkt dem Papst unterstanden.

De facto waren die Päpste der karolingischen Epoche längst die eigentlichen Herrscher der Stadt, auch wenn de jure immer noch der Kaiser in Byzanz oberster Potentat über Rom und den Westen des Reiches war. Doch von der Realisierung einer hegemonialen Stellung innerhalb des mittelitalienischen Raumes oder gar des Westens des Reiches war Rom denkbar weit entfernt, und die Bedrohung durch die Langobarden erinnerte die Nachfolger Petri auf höchst unangenehme Weise an diese Tatsache. Der Kaiser in Byzanz war weit entfernt, und dies ließ das Frankenreich als neuen Protektor der alten Kaiserstadt und seiner ambitionierten Päpste in das Spiel der Mächte eintreten.

In dieser Phase "außenpolitischer" Abhängigkeit wurden die Patrozinien römischer Kirchen in wachsendem Maße auch in einem politisch-propagandistischen Sinn instrumentalisiert. Insbesondere die Patrozinien der Apostelfürsten Petrus und Paulus boten den Päpsten immer wieder Gelegenheit auf die Einzigartigkeit päpstlichen Machtanspruchs gegenüber den weltlichen Mächten hinzuweisen - und das vor einem "Millionenpublikum" frommer Rompilger.

In dieser Epoche traten in der Patrozinienlandschaft Roms gleichzeitig aber eine Vielzahl neuer Kulte in Erscheinung. Ebenso wuchs auch die Vielgestaltigkeit der Patrozinienkonstellationen in bislang unbekannter Weise. Ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts setzte ein sukzessiver Machtverfall des Papsttums ein, der während des 10. Jahrhunderts dramatische Züge annahm, und die Nachfolger Petri weitestgehend ihres Handlungsspielraumes beraubte.

Im Verlauf der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts befand Rom sich unter der Herrschaft des Prinzipats, ausgeübt durch Alberich II. (932-955), während im Jahre 962 Otto I. (936-973) aus dem sächsischen Hause mit der Absicht nach Rom kam, sich zum Kaiser krönen zu lassen und damit gleichzeitig die ottonische Fremdherrschaft der folgenden Jahrzehnte begründete. In dieser Epoche ist ein dramatischer Rückgang der Gründungen römischer Gotteshäuser festzustellen gewesen, der alle Typen betraf - ausgenommen den der stadtrömischen Kirchen.

Die Veränderungen und ihre Folgen

I n den Jahren des ausgehenden 9., und den ersten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts erfolgte eine tiefgreifende Veränderung der innerstädtischen Populationsdichten. So verlagerte sich die dicht besiedelte Region in den Bereich des Marsfelds und den Nordwesten der Stadt, der zuvor nur eingeschränkt genutzt worden war. Im Gegenzug entvölkerten sich weite Teile im Süden und Osten. Da die neuen Siedlungsschwerpunkte aber noch nicht in dem nötigen Umfang mit Kirchen versehen waren, wurden nahezu alle Neugründungen in dieser Region vorgenommen; und zwar in erster Linie in Gestalt stadtrömischer Kirchen. Demzufolge blieben alle anderen päpstlichen Baumaßnahmen hinter den Gründungen der Kirchen zurück. D.h. aber auch, dass in erster Linie es die Patrozinien der stadtrömischer Kirchen waren, die zu den Patrozinienersterwähnungen dieses Jahrhunderts beitrugen.

Demzufolge ist festzustellen, daß sich erstmals in dieser Epoche die kultische Evolution von der Entwicklung im Bereich der Ausdifferenzierung römischer Sakralbauten abkoppelte. Während der vorangehenden Epochen fand ein mehr oder minder kongruenter Prozeß statt, in dem auf der einen Seite die kirchliche Infrastruktur weiter entwickelt und differenziert wurde, und auf der anderen Seite das Spektrum der verschiedenen Patronatsheiligen sich schrittweise den theologischen, liturgischen und heortologischen Entwicklungen anpaßte und für immer neue Kulttypen öffnete.

Im 10. Jahrhundert erfolgte nun der Bruch. Aber von diesem tiefem Eingriff in die Entwicklungsgeschichte der römischen Kirche blieb der Bereich der kultischen Entwicklung unbeeinflußt. Im Gegensatz zu der materiellen Entwicklung der kirchlichen Struktur, war die ideelle Entwicklung weit weniger von den wirtschaftlichen Grundlagen abhängig. Darüber hinaus lag diese ja auch keineswegs ausschließlich in der Verantwortung der Amtskirche, die sie z. B. über die Formulierung theologischer Normen und liturgisch-heortologischer Konzepte im Rahmen synodaler und konziliarer Beschlüsse steuerte, sondern entwickelte über den Katalysator der Volksfrömmigkeit eine veritable Eigendynamik. Demzufolge war die zu konstatierende Verbindung früherer Epochen zwischen den Entwicklungen im Rahmen der Kirchenorganisation, der materiellen Ausstattung und Infrastruktur auf der einen und den Entwicklungen des Kultus und der Liturgie auf der anderen Seite zwar eine interdependente sich gegenseitig beeinflussender und stimulierender Aspekte, aber nichtsdestoweniger eine relative Verbindung.

L ängst hatten Theologie und Heiligenkult eine in den Gesellschaften dieser Epochen unwiderruflich festgefügte Position im Kontext allgemeiner Religiosität eingenommen, so daß auch ein furchterregender Niedergang des Papsttums die Entwicklung auf diesen Gebieten nicht aufhalten konnte.

Die Differenzierungsphase
Die Pläne des 9. und 10. Jahrhunderts
Das Reich der Franken
Das Reich der Franken
S. Maria in Cosmedin
Die Diakonie S. Maria in Cosmedin
Die Horreae
Die Apostelverehrung
Die Apostelverehrung